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"Im Auenlauf_3", Krippeninstallation, Weihnachten 2023


Self

Krippeninstallation
Im Auenlauf_3 MQT (Weihnachten 2023)

Mit der Ausstellung im auenlauf _2 hat das Krippenprojekt an der Au den ersten öffentlichen Auftritt
gehabt. Das Projekt beschäftigt sich mit den volkstümlichen Symbolen der Weihnachtsfeier, Lichterbaum
und Christkind. Als gemeinsames Brauchtum wird das Weihnachtsfest heute vor allem mit dem
Weihnachtsmann und Geschenken assoziiert. Vermarktet und verwurstet im Zeitalter der totalen
Individualisierung wird es zunehmend sinnentleert. Vor allem das Licht in der dunklen Jahreszeit bleibt der
emotionale Kitt einer gemeinsamen Erzählung von Frieden, Freude und Hoffnung. Das Kind, das
Menschsein im Zustand der hilflosen Unschuld, das die abstrakte Idee der Christusgeschichte weniger
aufgreift als der Name vermuten lässt, berührt vielmehr die Herzen der Menschen. Die Ergriffenheit im
Anblick des Lebenswunders. Zusammen mit dem Lichtwunder ist es eine Schöpfungsgeschichte, mit der wir
unsere Geworfenheit aufzufangen versuchen. Dabei spielen Emotionalität, Demut und Ehrfurcht eine
bedeutendere Rolle als Aufklärung und Gesetze oder Tradition und Etikette.
2000 Jahre christliche Geschichte hat Bilder hervorgebracht, die ihren Platz im kollektiven Gedächtnis des
entsprechenden Einflussgebietes haben. Hat die Kunst Anlass genug, sich dieser Bilder zu bedienen, selbst
wenn die Lebens- und Glaubensumstände sich weit von den Ursprüngen entfernt haben? Angesichts eines
mehrheitlich wissenschaftszentrierten Wandels des Weltverständnisses ist ein einheitlich ordnendes
Weltbild dem zersplitterten Vielfachen von Möglichkeiten gewichen. Der künstliche Mensch entfaltet eine
wirkmächtigere Geschichte als der vergöttlichte Mensch. Dem ungebremsten Wissenszuwachs, dem
kulturellen Überlegenheitsgestus begegnet die Natur nun mit Folgen, die dem Menschen Grenzen
aufzeigen. Und auch die Kultur wird mit ihrer selbsterschaffenden Kraft als Gefahr empfunden. Ja, sogar der
weltumfassende Entwurf eines humanistischen Codex zerlegt sich selbst im Zerrspiegel seiner moralischen
Ansprüche.
Das Krippenprojekt befragt Kultur und Natur. Die Au als der erweiterte Atelier- und Experimentierraum,
bietet ein umfängliches Repertoire an Archetypen kollektiver Sinnbildmuster, die ihren Ursprung ja in der
Bedingtheit menschlicher Lebensumstände haben. Es finden sich Merkmale, Artefakte und
Kulturrückstände.
Zufällig steht eine schüttere kleine Fichte, ein Tannenbäumchen an einer Biege im Autal direkt am
Wasserlauf. In unmittelbarer Nähe des Baumes haben Blätter und Erde begonnen eine verlorengegangene,
auffällig weiß leuchtende Silagefolie zu integrieren. Vermüllung. Den so angezeigten Standort nehme ich an
und bette ein aus Lehm geformtes Baby auf der Folie. Vom 24. 12. 2015 bis zum 6. 1. 2016 bleibt diese
erste Auenkrippe bestehen. Das Krippenkind ist der Witterung preisgegeben und zeichnet die
Wetterbedingungen auf. Im Ergebnis zerfällt die Figur, ist aber noch zu erkennen.
Das Ungeschützte hat keinen Bestand. Das Ungebrannte, nicht verhärtete, Formbare unterliegt dem
erwartbaren schnellen Wandel durch die Einflüsse der Umweltbedingungen. Die Lehmfigur wäre noch vor
Jahresablauf wieder zu einer undefinierbaren Erdmasse zerfallen.
In den folgenden fünf Jahren setze ich das Experiment in ritualisierter Form fort. Von zwölf Krippenfiguren
bleibt die Hälfte ungebrannt. 2016 bis 2020 bringe ich jedes Jahr ein weiteres ungebranntes Krippenkind
unter die Fichte, an deren Zweigen Kerzen befestigt und jeden Tag neu angezündet werden. Die
gebrannten Figuren bekommen einen eigenen „Hort“ in der Au, direkt im Wasserlauf an einer seichten,
geschützten Stelle. Die Auenkrippe wird jeweils vom 24. Dezember bis zum 6. Januar des folgenden Jahres
fotografisch und mit Tagebuchaufzeichnungen, die vor allem ein Wetter- und Zerfallsbericht sind,
dokumentiert. Zusammen mit dem Einholen des ungebrannten Krippenkindes wird auch je ein gebranntes
Baby aus dem „Hort“ zurückgeholt ins häusliche Atelier. Findelkinder.
Findelkindermythen dienten in Zeiten stammesgeführter Identitätsfindung oftmals der
Herkunftsbestimmung, der Herleitung aus einem göttlichen Geschlecht.
Die Krippenkindsammlung der Ausstellung umfasst zehn Figuren. Neun davon aus dem Projekt von 2016 bis
2019. Zwei Figuren befinden sich noch in der Au und eine im Archiv. Sie sind alle vom Stamme Mensch und
reine Artefakte.
Spezifische Erklärungen habe ich keine. Jede Bedeutungszuweisung hat wiederum
Bedeutungshintergründe, die mitwirken. Vielmehr frage ich mich, ob die Kunst noch in der Lage ist, eine
Geschichte der Menschlichkeit zu erzählen, die es mit der Gegenwart aufnehmen kann.
Hätte ich alle ungebranntes Lehmbabys auf der Folie liegen gelassen, wäre die Folie das Übriggebliebene.
Vielleicht mit einer kleinen Lehmschicht in den Falten. Das Wasser spült die Folie immer wieder frei.
Wie also steht es mit Kultur und Natur? Die Orientierung am sichtbaren Langlebigen in der Natur hat in
Kunst und Kultur zum bearbeiteten Stein geführt. Trotzdem ist der Wandel beständiger und einziger
Ausweis von Leben. Auch Steine werden besiedelt und zerfallen unter Witterungseinflüssen und
Erdbewegungen. Dem Prinzip folgt die Natur unerschütterlich. Gleichgültig gegenüber unseren Ideen von
Gerechtigkeit oder Moral, unseren unzulänglichen Worten von Glück und Unglück.
Der Mensch, der als natürliches Wesen offenbar mit einer unstillbaren Sehnsucht nach Vollkommenheit
ausgestattet ist, verbessert durch Einsicht und Lernen in Nachahmung von Naturgesetzen seine
Lebensbedingungen ebenso in beständigem Wandel. Das Ziel der Vollkommenheit allerdings birgt ein
Paradoxon. Denn mit der Vollkommenheit ist das Lebensprinzip des Wandels beendet. Eine absolute
Wahrheit gibt es nicht. So endet auch jedes Dogma im Erstarren, im Lebensfeindlichen, Lebensfremden. Die
Folie ist zäh und langlebig. Ein schwer einzuverleibender Fremdkörper für die Natur, aber auch sie wird
eines Tages verschwinden. Werden wir unser Menschsein bewahren können?

MQT, My Queendom Time: 10. Dezember 2023 von 12 bis 16 Uhr geöffnet

​11. Dezember 2023 bis 6. Januar 2024 zu besichtigen mit Anmeldung